Pfarrer Nebe und die Schweinigels von Uichteritz

Nach Überlieferungen erzählt von Wolfgang Hoffmann  -  Uichteritz

  Das Dorf Uichteritz war in großer Aufregung. Erst vor kurzem hatten die Dorfbewohner den Einzug und die Ordination des jungen Pfarrers festlich begangen. Nun sollten sie auch die Freude erleben, ihren Kirchenpatron, der auf dem nahen Klosterschloss Goseck residierte, seit langer Zeit wieder in ihrer Kirche begrüßen zu können. An den Dorfeingängen hatte man Tore mit Girlanden errichtet und hier und dort die Preußische Flagge gehisst. Vom Kirchturm wallten die Patronatsfahnen, die das Wappen der Grafen von Zech-Burkersroda weithin erkennen ließen.

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Der junge Pastor war schon vor einigen Wochen durch die Huld des von einer Auslandsreise zurückgekehrten Grafen geehrt worden. Der Graf hatte ein Reitpferd zur Verfügung gestellt, damit er schneller und vom Staube unberührt seine beiden Filialen Storkau und Lobitzsch besuchen konnte.
Die Uichteritzer Bauern erzählten von ihrem jungen Pastor in der Gemeindeschenke interessante Dinge. Einer hatte in der Dorfschenke folgende Geschichte erzählt, die nun überall die Runde machte:

Der Bruder des Herrn Pastor war Pfarrer im Nachbardorfe Markwerben. Auch er hatte am Sonntag Filialen zur Kirchenpredigt zu besuchen und auch er war beritten. So kreuzten sich die Wege der beiden Brüder an den Sonntagmorgen auf den Höhen vor Storkau und Obschütz.

Und so begrüßten sich die beiden Brüder und Theologen; Wer zuerst an den Kreuzweg kam stieg vom Pferd und schrieb in den Sand und im Winter in den Schnee; veni (ich kam), der Späterkommende grub sein  vidi (ich sah) ein und der zuerst von der Filiale Zurückreitende setzte dann sein triumphierendes  vici (ich siegte) darunter.

Ja, das waren die beiden Pfarrer Nebe in Uichteritz und Markwerben.

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Man schrieb den 2. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1863. Das Tor des Pfarrhauses wurde aufgestoßen und heraus ritt der Herr Pfarrer. Er wollte seinen Patron bis auf die Höhen von Lobitzsch entgegenreiten denn er wusste, das auch der Graf beritten sein Dorf besuchen wollte.
Die Glocken läuteten. Kirchgänger füllten die Gassen. Das lebhafte Gespräch des Pfarrers mit seinem Patronatsherren wurde durch das Nahen einer größeren Familie unterbrochen. Ehrfurchtsvoll zogen die Bauern ihre Mützen, tief knicksten die Frauen und Mädchen. Pastor Nebe zog seinen Zylinder und rief fröhlich:
„Guten Tag, meine lieben Schweinigels!“ Der Graf schaute seinen Begleiter überrascht von der Seite an, der tat aber nicht der gleichen.
Bald nahte wieder eine Familie, die zur Kirche strebte. Wieder zog der Pfarrer seinen Zylinder und erwiderte die Grüße und rief ebenso fröhlich wie vorhin: „Guten Tag, meine lieben Schweinigels!“
Das war dem Grafen zu bunt, er blieb stehen, ließ die Gruppe außer Hörweite und sprach entsetzt: „Aber Herr Pastor, nehmen Sie mir es nicht übel, eine derartige plumpe Vertraulichkeit in der Begrüßung von Kirchengemeindemitgliedern ist mir doch noch nicht vorgekommen. Wie nennen Sie die Leute?  Schweinigel?  Das ist eine starke Sache!“
Pastor Nebe nahm diesen Vorwurf seines Patronatsherren mit Lächeln auf:
„Herr Graf, Sie gestatten, wir haben im Dorfe fünf Familien mit Namen Schweinigel. Zwei sind schon an uns vorübergezogen, vielleicht haben wir noch das Glück und treffen auch noch die anderen Drei.“

50 Jahre waren seitdem verflossen. Aus dem jungen Dorfpfarrer im Saaletal war ein Generalsuperintendent von Westfalen geworden, der sich nach seiner Pensionierung in Eisenach am Fuße der Wartburg angesiedelt hatte. Er feierte sein 50jähriges Theologenjubiläum und in der
Frühe des Tages tummelten sich vor seinem Hause im Hörsetal Gruppen von Posaunenbläsern und Jünglingsvereinschören, die ihm den Ehrentag verschönern wollten.
Immer neue Gratulanten drangen zur Kaffeetafel vor.     

Da stürmte das Hausmädchen ins Zimmer: „Herr Generalsuperintendent, draußen steht eine Deputation im Zylinder!“
„Woher?“
„Aus Uichteritz!“
Der Jubilar stürmte zur Haustür. Wahrhaftig, da standen drei Riesengestalten im Bratenrock und Zylinder:
„Aus Uichteritz! Das ist ja herrlich! Heißt unter euch einer vielleicht Schweinigel?“
„Jawohl Herr Generalsuperintendent, Bürgermeister Schweinigel mit Grüßen und den besten Wünschen aus Uichteritz!“
Da stürzte der Jubilar mit einen Jubelruf in die Arme des Bürgermeisters: „Endlich wieder einmal ein echter und rechter Schweinigel! Seien Sie herzlich willkommen!“

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Es war nach dem Kriege, der Sohn des verstorbenen Generalsuperintendenten wanderte an einem Frühlingstag in Erinnerung an seinen Vater alte Wege. Von Weißenfels an der Saale entlang, an der Marienmühle vorbei, nach Uichteritz. Am Dorfeingang begegnete ihm ein alter Bauer, der wohl an die 80 Jahre zählen mochte. Er fragte den Alten, ob er aus Uichteritz stamme.
„Jawohl, in Uichteritz geboren und will auch in Uichteritz sterben.“ – „So, das nenn ich Heimatliebe. Aber gibt’s dann bei Euch in Uichteritz noch Schweinigels?“
Erschreckt winkte der Alte ab: „Nee, nee, die gibt’s bei uns nicht mehr. Die haben sich alle bei der Regierung umtaufen lassen und heißen jetzt Schweigel!“
Vor vier Jahren muss es wohl gewesen sein, da erhielt der Sohn des verstorbenen Generalsuperintendenten eine Postkarte. Sie war aus Uichteritz abgestempelt und lautete:

„Sehr geehrter Herr! Kommen Sie ruhig wieder nach Uichteritz, es gibt bei uns wieder Schweinigels!“

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In Uichteritz sind in diesen Frühjahr die männlichen Nachkommen der Familie Schweinigel mit Karl Schweinigel ausgestorben. In der Kirchengemeinde Uichteritz, in der Filiale Lobitzsch lebt noch Otto Schweinigel, mit Nachkommen. Damit bleiben die echten und rechten Schweinigels, die zu den tüchtigsten und angesehensten Bauernfamilien gehörten, der Kirchengemeinde Uichteritz-Lobitzsch, so Gott will, erhalten.

Das war der Originaltext

Heute, im Jahr 2001 gibt es keine Schweinigels mehr. Eigentlich schade.

Gustav Nebe, war von 1862 – 1869 Pastor in Uichteritz. Danach Superintendent in Weißenfels und Halberstadt. 1883 Generalsuperintendent in Münster. In dieser Position weihte er im Jahre 1899 die Deutsch-Evangelische Kirche, im Beisein von Kaiser Wilhelm III, in Jerusalem ein.