Der preußische Tambour
Heimaterzahlung von Alfred Nier
Diese Geschichte hat nicht unmittelbar mit Uichteritz zu tun.
Dennoch möchte ich sie hier mit anbieten, da sie ein wenig von der
alten Zeit widerspiegelt und mit dem Bauern Christian Schweinigel
auch ein Uichteritzer Bürger mit auftaucht. Viel Spaß beim lesen
:o).
„Rumdiridum, bum bum, rumdiridun, schlug der kleine, schmächtige
Tambour der preußischen Grenadierkompanie die große Soldatentrommel.
Drei Jahre war der Tambour nun bei der Armee, ein stiller, ruhiger
Kerl, der sich abseits hielt, wenn die Kameraden laut zechten und
lärmten oder gar Händel miteinander führten. Wenn er dann mit
freundlichen Worten dazwischen trat und sie mit seinen großen,
blauen Augen anschaute, ließen die Grenadiere ihr wüstes Reden. Ja,
selbst der alte Korporal wurde still, wenn der Tambour mit seiner
hellen Stimme die Lieder seiner Heimat sang. Bei Roßbach hatte er
zum ersten Male die Trommel im Pulverdampf geschlagen, bei Leuten
und Zorndorf war er dabei gewesen, durch Schlesien und Pommern war
er mit den Grenadieren gezogen. Trotz seines stillen Wesens war er
oft auch lustig und fröhlich gewesen. Als aber der Herbstwind zum
zweiten Male die Blätter von den Bäumen jagte - damals, als man nach
einem Überfall durch die Österreicher so viele aus der Kompanie
begraben musste - hatte ihn wohl das Heimweh gepackt Man sah ihn oft
mit verweinten Augen.
Seit einigen Wochen aber war der Tambour noch stiller als ehedem.
Sein Trommelschlag klang matt und müde, und oft saß er jetzt abends
traurig auf dem Stroh. „Ihn plagt das Heimweh", sagten dann die
Kameraden. Der lange Michel versuchte den Tambour zu trösten, aber
dieser fuhr ihn hart an: „Ach, laß mich in Ruhe!" Selbst der
Hauptmann hatte seine Traurigkeit bemerkt und gemeint, der Tambour
solle zum Feldscher gehen, er sei gewiss krank. Dazu jedoch war der
Tambour nicht zu bewegen. Kein Zureden half, er wollte in der
Kompanie hieben. Nun aber war er auf dem Marsche plötzlich wie tot
zusammengebrochen. Man holte den Feldscher und schaffte den Kranken
auf einen Bagagewagen. Einige Kameraden brachten Stroh herbei, damit
er weicher läge. Am Abend wusste das tanze Regiment die seltsame
Geschichte des kleinen Tambour. Er war ein Frauenzimmer, ein Mädel,
und hieß Anna Maria Schubert. *
Lasst euch erzählen, wie Anna Marie Schubert Soldat wurde! Sie war
am 10. August 1736 in Pödelist bei Freyburg als die Tochter des
wohlhabenden Bauers Gabriel Schubert geboren. Auch die Mutter
stammte aus einem Bauernhof. Ihr Vater war der bereits verstorbene
Bauer Christian Schweinigel aus Uichteritz an der Saale. Schon am
11. August war die Taufe; junge Leute aus Pödelist und Goseck waren
die Taufpaten. Lustig und fröhlich wurde die Kindtaufe gefeiert.
Vater Schubert liebte frohe Feste.
Anna Marie wuchs auf wie all die Bauernmädchen damaliger Zeit Ein
wenig lesen und Schreiben lernte sie beim Schulmeister; im Haushalt,
im Garten, im Stall und auf dem Felde aber war die Mutter die
Lehrmeisterin. Der Vater kümmerte sich nicht viel um die
Bauernwirtschaft; man sagte im Dorfe von ihm, er habe die Arbeit
nicht erfunden. Wenn die Nachbarn vom Felde die Ernte heimfuhren,
saß er in irgendeiner Schenke in fröhlicher Gesellschaft. Oft trieb
er sich auch im nahen herzoglichen Forst, der Göhle, umher. Der neue
Herzog kam nur selten aus Weißenfels in sein Jagdschloss „Friedenstal“.
Indessen, so munkelte man, jage der Bauer heimlich des Nachts des
Herzogs Wild und verkaufe es in Freyburg. Dort röche es in den
Weinschenken oft mitten in der Woche
nach Wildbraten. Manchmal auch lag am Morgen eine Rehkeule daheim
auf dem Küchentisch. Dann weinte die Bäuerin, und der Hochbetagte
Ahne schimpfte in der Auszüglerstube, der Bauer solle sich lieber um
die Feld- und Hofarbeit kümmern. Alle Arbeit ruhte so allein auf den
Schultern der Bauersfrau, und Anna musste deshalb schon frühzeitig
schwere Feldarbeit verrichten. Sie war ja die Älteste der drei
Geschwister. Die 1741 geborene Maria Elisabeth war oft kränklich,
und der Bruder Sebald zwölf Jahre jünger als Anna Maria.
Als Sebald im April 1748 geboren wurde, feierte Gabriel Schubert,
glücklich, einen Sohn zu haben, ein großes Tauffest. Der angesehene
Kauf- und Handelsherr Christian Börner aus Leipzig, der im nahen
Unstruttal einen großen Weinberg besaß, gehörte zu den Taufpaten.
Durch Schuberts liederliches Faulenzerleben kam der Bauernhof immer
mehr herunter. Oft hatte der Bauer, um Geld für seine Zechgelage in
die Hände zu bekommen, die Ernte schon auf dem Halme verpfändet, und
meist war jener Handelsherr Börner, der so schon in den Besitz von
Schuberts schönem, großem Weinberg gekommen war, sein Geldgeber.
Während der Ernte des Jahres 1756 brachte Christian Schubert, der
nach dem im Februar erfolgten plötzlichen Tode seines kleinen
Lieblings Sebald tagelang in den Schenken saß, die Nachricht heim,
dass preußische Truppen wiederum die Kursächsischen Grenzen
überschritten hätten, in Eilmärschen nach Dresden marschieren und
das Sachsenland erneut mit Krieg überzögen. Bald war die Nachricht
in ganz Pödelist verbreitet. Als am Samstag die Bauern in den
Abendstunden in der Schenke zum Kartenspiel zusammenkamen, wusste
jeder eine andere Neuigkeit. Man wollte erfahren haben, dass man von
Weißenfels aus heimlich die Reste des silbernen Tafelgerätes aus dem
nicht mehr bewohnten Schlosse nach Dresden gebracht habe. Andere
erzählten, die reichen Naumburger Kaufherren hätten des Nachts ihre
Kostbarkeiten in ihren Weinbergen im Blütengrund vergraben. Auch auf
der Neuenburg ließe der Burghauptmann Tore und Mauern ausbessern.
Krieg! Seit fünfzig Jahren hatte man in dieser Gegend kaum Feinde
gesehen, denn vor zwölf Jahren, als schon einmal der Kurfürst mit
dem Preußenkönig Krieg führte, war man glücklicherweise mit einem
blauen Auge davongekommen.
Diesmal aber stand Schlimmes bevor, denn in der ganzen Welt hatte
man gerüstet. Die Bauern murrten und schimpften: „Was geht uns der
Krieg der hohen Herren an, wir müssen doch allein den Schaden
tragen." Andere meinten: „Wir müssen auf der Hut sein; sicher werden
nun bald die Werber kommen und unsere Jungen zu den Soldaten holen."
Die Bauern behielten Recht; schon am nächsten Tage kamen die
sächsischen Werber. Sie hatten es eilig. Wahrend die Kirchenglocken
zum Sonntagsgottesdienst riefen, erschienen sie plötzlich im Dorfe,
durchsuchten die Häuser nach jungen Männern und hielten sich auf dem
Kirchplatz auf. Als dann nach dem Gottesdienst die Besucher die
Kirche verließen, wurden die Jungburschen sogleich abgesondert.
Mütter und Geschwister, schnell herbeigeeilt, jammerten um ihre
Söhne und Brüder; junge Madchen umarmten schluchzend ihren
Herzallerliebsten, Väter baten den Offizier um die Freigabe ihres
Jungen. Der Ortsrichter verhandelte mit den Werbern denn Soldat sein
war allen verhasst, es war keine Ehre. Die Soldaten kämpften ja
nicht für die Freiheit ihres Volkes, nein, die Interessen des
Kurfürsten galt es zu verteidigen. Vielleicht wurden sie gar eines
Tages wie das Vieh an irgendeinen anderen Fürsten verkauft. Keiner
der Rekruten wusste, ob er je die Heimat wieder sehen würde.
Alles Jammern und Betteln war jedoch umsonst; die Werber blieben
hart. Wer sich nicht loskaufen konnte, musste, oft ohne von den
Angehörigen Abschied nehmen zu können, schon nach kurzer Zeit, von
den Soldaten streng bewacht, den Marsch nach Weißenfels antreten.
Andere Abteilungen mit Rekruten aus Goseck, Obschütz und Markröhlitz
gesellten sich bald zusammen, und in Uichteritz war es schon eine
stattliche Schar.
In Weißenfels herrschte an diesem Sonntagnachmittag viel Aufregung.
Aus allen Ortschaften der Umgebung brachte man die neuen Soldaten.
Oben im Schlosshof wurden sie in alte Uniformen gesteckt; Offiziere
erschienen, und der Fahneneid auf den Kurfürsten musste geleistet
werden. Jetzt war keine Flucht mehr möglich, wenn man nicht sein
Leben aufs Spiel setzen wollte. Mancher versuchte wohl noch seine
sonntägliche Bauernkleidung mit einem Gruß an die Lieben durch einen
hilfsbereiten Bürger heimzuschicken, denn schon in den Abendstunden
marschierte die Truppe in Richtung Pegau aus der Stadt hinaus.
An diesem verhängnisvollen Augustsonntag war auch Anna Maria
Schubert voller Unruhe. Drüben in Markröhlitz hatte sie ihren
Liebsten um den sie nun bange war. Es war Kilian Walther, eines
kleinen Fröners jüngster Sohn. Am Weihnachtstage vergangenen Jahres
war er bei ihrem Vater gewesen und hatte gefragt, ob er dem Bauer
als Schwiegersohn recht wäre. Doch der Vater hatte Kilian stolz die
Tür gewiesen und ihn einen Schweinehirten und Betteljungen genannt.
Und dabei gehörte dem Gabriel Schubert kaum noch ein Stück Vieh im
Stall! Über und über war der Bauernhof verschuldet. Der Bauer hatte
seiner Tochter jeden weiteren Verkehr mit dem armen Schlucker, wie
er sagte, verboten. Trotzdem aber waren sich die beiden Liebenden
treu geblieben. Deshalb eilte nun das Mädchen am frühen Nachmittag
ins Nachbardorf. Sie konnte freilich ihren Kilian nicht mehr sehen;
auch ihn hatten die Werber mitgenommen. Mit verweinten Augen kam sie
zurück und schloss sich in ihre Kammer ein. Wann würde sie ihren
Liebsten wieder sehen?
Die letzten Monate des Jahres brachten für die Schuberts noch weiter
Not, Leid und Kummer. Der Kaufherr Börner kam aus Leipzig und
verlangte die Rückzahlung des geliehenen Geldes. Dreihundert Taler
müsse der Bauer sofort erbringen, da der Preußenkönig auch der Stadt
Leipzig hohe Kriegssteuern auferlegt hätte. Schubert war so
gezwungen, fast sein ganzes noch vorhandenes Getreide zu verkaufen.
Bald aber kamen die Preußen mit ihren Kriegsforderungen auch nach
Pödelist und verlangten hohe Getreideabgaben. Der Ortsrichter ging
selbst mit dem Amtsdiener von Haus zu Haus. Bei Gabriel Schubert
aber waren die Getreideböden leer. Endlich sprang der reiche Vetter
ein und lieferte für ihn das geforderte Korn. Am Nachmittag trieb er
dafür die beste Milchkuh hinüber in seinen Stall.
Kalter Januarwind pfiff durch die Gassen; die Abenddämmerung kam
übers Dorf. Da schlug auf dem Hofe der Hund an. Anna Maria ging ans
Tor. Draußen stand ein junger Mann in einem abgetragenen sächsischen
Soldatenmantel. Ein schmutzigweißer Verband war unter der Fellmütze
zu sehen. Stark hinkend kam er ein paar Schritte näher und stützte
sich dabei auf einen Stock. Nach seinem Begehren gefragt, erwiderte
er, dass er die Bauerntochtcr Anna Maria Schubertin suche, um eine
Bestellung auszurichten: „Vom Kilian!" rief das Mädchen. Der Fremde
nickte. Anna Maria bat ihn einzutreten. In der Wohnküche saß nur die
Schwester; die Mutter war im Stall, der Vater schon seit Tagen nicht
nach Hause gekommen.
Er stamme aus dem Unstruttal, so erzählte der Fremde, im Sommer sei
er in Reichardtswerben bei einem Bauer im Dienste gewesen und im
August, wie Kilian Walther, von den Werbern geholt worden. Auf dem
Marsch von Weißenfels zur Armee sei er mit diesem Freund geworden
und auch dann mit ihm in derselben Kompanie gewesen. Freilich, was
er weiter berichtete, brachte für Anna Maria wenig Freude. Als der
Herbst die Blätter färbte, wurde die gesamte sächsische Armee
südlich von Pirna gefangen genommen. Er selbst sei in den Kämpfen
schwer verwundet worden. Der Preußenkönig machte wenig Federlesen;
die Offiziere wurden auf ihr Ehrenwort, in diesem Kriege nicht mehr
gegen Preußen kämpfen zu wollen, entlassen, die Mannschaften aber
ohne weiteres in preußische Uniformen gesteckt und auf die einzelnen
Regimenter verteilt. Ihn selbst habe man als Invaliden entlassen;
nun wolle er zu seinen Eitern ins Unstruttal. Kilian habe ihn im
Lazarett besucht und die besten Grüße an Anna Maria aufgetragen.
Wenn der Krieg vorbei sei, würde er kommen und sie auch gegen der,
Willen ihres Vaters als Frau heimführen. Mit Tränen in den Augen
hatte das Mädchen dem Invaliden zugehört, und auch die Mutter, die
inzwischen eingetreten war, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Man bot dem Fremden ein bescheidenes Nachtmahl und forderte ihn auf,
bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Viel wusste der Invalid noch am
Abend zu erzählen. Man habe sie damals, um vor den Preußen sicher zu
sein, auf Nebenwegen durch das bergige Waldland im Süden Sachsens
geführt. Oft marschierten sie des Nachts und lagerten am Tage in den
großen Wäldern; hier fand auch die erste militärische Ausbildung
statt. Die Bauern, die mit besorgtem Gesicht auf den Dorfgassen
standen, wenn sie durch die Ortschaften zogen, jammerten über den
bevorstehenden Krieg. Gestaunt hätten sie später über die
Felsenberge, die im Elbgebirge die Wälder haushoch überragten, und
Kilian hätte immer wieder gemeint, dass das Tal der Elbe hier viel
schöner als das Saaletal 'bei Goseck sei.
Wie lange noch würde der Krieg dauern? Das war die Frage, die Anna
Maria immer wieder bewegte. Auch wenn Sachsen mit den Preußen
Frieden schlösse, wäre es nicht sicher, ob deren König die in den
preußischen Soldatenrock gezwungenen Sachsen heimlassen würde. Was
galt den hohen Herren schon ein armer Frönerjunge?
Der Sommer kam ins Land; die Ernte stand überall gut. Auch Gabriel
Schubert konnte zufrieden sein. Die Nachbarn, der Ortsrichter, ja
selbst der Pfarrer hatten dem Vater ins Gewissen geredet und ihn
gemahnt, er solle sich doch um seiner Familie willen mehr um die
Feldarbeit kümmern. So kam es, dass auch er in den ersten
Septembertagen mit der Ernte fast fertig war. Nur den Hafer musste
man noch einfahren. Da brachte Michael Lemmer, der Postillion der
Merseburger Post, die Nachricht ins Dorf, dass die Preußen kämen.
Schon am nächsten Tag tauchten die ersten feindlichen Reiter auf.
Preußische Husaren kamen und verlangten Heu und Hafer. Am Naumburger
Wege, wo Nachbar Schmeißer noch Korn stehen hatte, warfen Dragoner
ihren Pferden ganze Stauchen vor. Einmal marschierte auch ein
Bataillon Grenadiere auf der Straße nach Freyburg vorüber. Anna
Maria eilte vors Dorf. Vielleicht war ihr Liebster dabei. Aber es
waren nur fremde Gesichter.
An diesem Nachmittag war das Mädchen nach dem Vesperbrot in den
Garten gegangen, um die ersten Äpfel zu pflücken. Plötzlich rief
eine Mannerstimme hinter ihr: „Jungfer Schubertin, auf ein Wort!"
Erschrocken blickte sie sich um. Draußen stand am Zaun ein
Jungbauer. Sie kannte ihn; er war mit Kilian befreundet gewesen und
stammte aus Obschütz. Eine Ahnung stieg in ihr auf, so fragte sie
sogleich: „Bringst du Nachricht von Kilian:" Er berichtete nun dem
überraschten Mädchen, dass nahe bei Obschütz das preußische
Bataillon Finck ein Biwak errichtet habe. Dort sei Kilian in der 2.
Kompanie. Viele, viele liebe Grüße habe er zu bestellen. Leider
könne Kilian nicht selbst kommen, da es aufs strengste verboten sei,
Soldaten in ihrer Heimat Urlaub zu geben. Vielleicht könne sie
morgen einmal am Lager erscheinen. Anna Maria wollte noch viel von
dem Boten wissen, doch konnte dieser sich nicht länger aufhalten,
denn er wollte wegen der vielen preußischen Soldaten, die jetzt in
der Gegend waren, noch vor dem Dunkelwerden wieder in Obschütz sein.
Es traf sich gut, dass der Vater für den nächsten Tag zum Amtsvogt
nach Freyburg bestellt war, so konnte Anna Maria am Vormittag leicht
daheim abkommen und nach Obschütz eilen. Ins Lager selbst kam sie
nicht hinein. Überall hatte man die Wege durch Posten abgesperrt.
Sie blieb lange Zeit in einiger Entfernung stehen, immer noch
hoffend, Kilian würde sie sehen und zu ihr herauskommen. Endlich,
als ein Sergeant die Posten kontrollierte, fasste sie sich ein Herz,
ging mutig auf ihn zu und fragte, ob ihm in der 2. Kompanie der
Grenadier Kilian Walther bekannt sei. „Freilich. Jungfer",
antwortete er, „bin ja selbst in dieser Kompanie. Bist wohl der
Schatz?" Und als das Mädel bis hinter die Ohren rot wurde, schickte
er einen der Grenadiere ins Lager; „Hole den Kilian, den Sachsen'
verrat' aber nichts!"
Das war eine Freude, als Kilian Anna Maria in den Armen hielt! Wie
viel gab es zu erzählen! Immer und immer wieder fragte das Mädel, ob
er denn nicht bald entlassen würde, da er doch kein Preuße sei.
Kilian konnte ihr kein tröstendes Wort sagen. „Der Preußenkönig
lässt niemand davon, ehe der Krieg beendet ist", berichtete er.
„Selbst Urlaub erhielt ich nicht, um meine Eltern zu besuchen. Mein
Vater ist gestern selbst bei unserem Hauptmann gewesen, hat Geld
angeboten und kniefällig um meine Entlassung gebettelt. Aber der
Hauptmann hat ihm geantwortet, daran wäre gar nicht zu denken. Im
Gegenteil. Noch weitere zehn Burschen müsse er hier im thüringischen
Sachsenlande anwerben lassen, damit seine Kompanie die volle Stärke
bekäme."
So gab es zwischen den beiden Liebenden einen Abschied mit Tränen.
Vielleicht würden sie sieh niemals wieder sehen, denn schon morgen,
so erzählte Kilian, würde das Bataillon nach Thüringen marschieren;
dort sei eine große feindliche Armee. Es wären Franzosen, aber auch
viele Soldaten aus süddeutschen Ländern, aus Bayern, Schwaben,
Hessen, Baden, Thüringen, die dem Preußenkönig wegen des schnöden
Überfalles auf Sachsen feindlich gesinnt seien.
Traurig trat das Mädchen den Heimweg an. Tränen rollten ihr über die
Wangen. Ihr Herz war ohne Hoffnung. Als sie durch die Hintertür in
den elterlichen Hof kam, hörte sie den Vater in der Stube schimpfen
und fluchen. War er um ihretwillen so ungehalten? Nein, weit
Schlimmeres war geschehen! Leise berichtete die Mutter, die mit
verweintem Gesicht in der Scheune hantierte, dass der Kaufherr
Börner aus Leipzig beim Freyburger Amt die Einziehung seiner an den
Vater geliehenen Gelder durch den Amtsvogt beantragt und, falls kein
Geld vorhanden, den Verkauf des Bauernhofes verlangt habe. Was
sollte nun aus ihnen allen werden?
Anna Maria verkroch sich weinend in ihrer Kammer. Wie träumend saß
sie auf dem Rand des Bettes. Sie wusste ihrer Seele keinen Rat. Ach,
wenn jetzt Kilian bei ihr gewesen wäre! Plötzlich kam ihr ein
Einfall. Hatte Kilian nicht erzählt, dass man in seiner Kompanie in
den nächsten zehn Tagen Rekruten anwerben wolle? Wenn sie nun . . .?
Der Gedanke ließ sie nicht wieder los. Als Bauernbursche verkleidet
wollte sie versuchen, sich im Bataillon Finck als Soldat anwerben zu
lassen. Dann wäre sie immer in Kilians Nähe. Vielleicht kam morgen
schon der Amtsvogt, um den Bauernhof öffentlich zu verkaufen. Als
Dienstmagd würde sie sich irgendwo ein Unterkommen suchen müssen.
Leise schlich sie an den alten Schrank, der im Treppenflur stand.
Viele alte Kleidungsstücke waren darin. Hatte sie sich nicht im
vergangenen Jahr zur Weiberfastnacht als Bauernbursche verkleidet?
Gewiss würde ihr alles noch passen. Die alte Schranktür knarrte,
aber niemand schien es dm Haus bemerkt zu haben. Beim Kerzenschein
fand sie Hose, Weste. Joppe und Mütze. Jetzt die festen Feldstiefel
geholt. Ein Leibriemen, ein Männerhemd, zwei Paar derbe
Männerstrümpfe fehlten noch. Herrgott, was so ein Mannsbild alles
anhat! Wie ein Dieb schlich sie durchs Haus. Das Kammerfenster wurde
mit einer Decke verhängt, niemand sollte den Lichtschein der Kerze
bemerken. Nun saß das Mädchen mit der Schere in der Hand vor dem
Spiegel. Sie zauderte. Ein letzter Entschluss, die ersten ihrer
langen, braunen Haarsträhnen fielen zur Erde; es gab kein Zurück
mehr. Als sie dann umgekleidet in den Spiegel schaute, erschrak sie
ein wenig. Würde man diesen kleinen, schmächtigen Bauernburschen mit
dem Mädchengesicht überhaupt als Soldaten nehmen? Der Wächter hatte
mit dem Horn die Morgenstunde verkündet. Es wurde Zeit, das Haus zu
verlassen. Durch den Hof wagte sie sich nicht zu gehen, vielleicht
würde der Hund anschlagen. Sie löschte das Licht der Kerze und ließ
sich behände am Spalier des Weinstockes in den Garten gleiten.
Vorsichtig, damit sie niemand sah, eilte sie der Landstraße zu.
Dort, wo das alte Steinkreuz am Wege steht, blieb sie noch einmal
stehen und blickte auf das Heimatdorf zurück. Im Morgendämmern
konnte sie deutlich die Kirche mit ihrem alten Wehrturm erkennen.
Daneben im Kirchgarten lagen Großvater und Großmutter Schubert und
der kleine Sebald begraben. Die Häuser der Nachbarn, das Bauerngut
der Eltern und hinter dem Dorfe die Weinberge und die Göhle, der
große herzogliche Jagdwald. Ihr Heimatdorf! In den Bauernhöfen
krähten die Hähne, der Morgen dämmerte. Jäh wandte sie den Blick und
schritt rüstig dem neuen Leben entgegen.
Als sie am Lager des Bataillons Finck ankam, schien die Sonne schon
durch den Morgendunst. Überall stieg der Rauch von den frisch
entfachten Lagerfeuern empor. Ohne zu zaudern, ging die Jungfer
Schubertin an den Posten heran und bat zum Hauptmann der 2. Kompanie
geführt zu werden; sie habe gehört, dass dieser neue Rekruten
anwerben lassen wolle. Spöttisch sah der Posten den kleinen,
schwächlichen Burschen an und fragte: „ ..He. Bauernjunge. hast du
dir das auch redlich überlegt? Soldatensein ist kein Kirmestanz!"
Als er jedoch keine Antwort erhielt, schüttelte er fast unwillig den
Kopf und brummte: „Komm mit!"
Im Lager rüstete man schon überall zum Abmarsch. Zelte wurden
abgebrochen, Bagagewagen gepackt. Der Hauptmann hatte eben sein
Morgenmahl verzehrt und verhandelte mit seinem Kompaniefeldwebel vor
dem Zelt. Alts der schmächtige Jungbauer vor ihm stand und mit
schwacher, fast knabenhafter Stimme sein Anliegen vorbrachte,
schüttelte er sogleich abwehrend den Kopf. Auch der Feldwebel
betrachtete das Bürschlein von allen Seiten und Anna Maria merkte
deutlich, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg. Weil der Kerl
aber gar zu sehr bettelte und der Hauptmann merkte, dass ihm das
Weinen näher als das Lachen war, fragte er ob er als Trommelbube
bleiben wolle, was mit eifrigem Kopfnicken bejaht wurde. Damit war
für den Hauptmann die Angelegenheit erledigt.
Der Feldwebel nahm den neuen Rekruten mit in sein Zelt, um den Namen
des Trommlers in die Stammrolle einzutragen. Da stand nun schwarz
auf weiß die Lüge der Anna Maria Schubertin: Christian Schweinigel
aus Uichteritz an der Saale, geboren am 25. Mai 1741." Es war der
Name ihres Großvaters und der Geburtstag ihrer Schwester.
Der Kompaniefeldwebel brachte den neuen Trommler Christian zum
Bataillonsstab und erklärte ihm auf dem Wege dorthin: „Du musst erst
ein paar Wochen beim Bataillonstambour in die Lehre gelten. Die
Uniform kann ich dir erst im nächsten Lagerschicken, Bubenkleidung",
so spottete er haben wir bisher nicht gebraucht, muss erst mit dem
Schneider darüber sprechen. Am besten ist's, du behältst deine
eigenen Stiefel, wir haben nichts Gescheites an Schuhwerk im Lager.
Bekommst einen Täler als Abfindung ausgezahlt.
Schon nach wenigen Stunden fuhr Anna Maria, nun als Trommler
Christian, auf einem Bagagewagen durch die Göhle ins Unstruttal und
weiter nach Thüringen. So kam es, dass sich die beiden Liebenden
erst nach Wochen wieder sahen. Kilian war aufs tiefste erschrocken,
und doch durfte er sich um ihretwillen nichts anmerken lassen.
„Maria, Maria", flüsterte er ihr zu, „Mädel, was hast du getan? Das
kann nicht gut gehen. Ich gehe zum Hauptmann und gestehe ihm alles.
Bin bei ihm gut angeschrieben; er wird dich ohne Strafe
heimschicken." Aber Anna Maria bat ihn mit weinendem Blick, sie
nicht zu verraten. Was sollte ohne ihn aus ihr werden?
Es war eine harte Zeit für den Trommelbuben. Das rechte Trommeln war
so schnell nicht gelernt. Der alte Trommelkorporal schlug manchmal
auf seinem Rücken gehörig den Takt. Aber die Gewissheit, dem Schatz
nahe zu sein, ließ alles Leid gering werden.
Die Preußen zogen in den nächsten Monaten im Thüringer Land hin und
her, kamen wieder ins Saale- und Unstruttal und marschierten
vorübergehend nach Leipzig zu. Immer lagen sie auf diesen Märschen
vor allem den geplagten Bauern zur Last. Und nach ihnen kamen die
Franzosen und die Soldaten der Reichsarmee. Auch sie lebten auf
Kosten der Bauern. Als es dann im November bei Roßbach, nur wenige
Stunden von Pödelist entfernt, zur Schlacht zwischen den beiden
feindlichen Armeen kam, erhielt Anna Maria ihre Feuertaufe. Lärm,
Geschrei, Trompetensignale, Kanonendonner. Reiterangriffe! Kugeln
pfiffen an ihr vorüber. Über Verwundete und Tote musste sie
hinwegsteigen. Herbstsaat wurde zertreten.
Sie schlug wie toll auf das Kalbfell, gleichsam, als wollte sie die
Angst ihres Herzens mit diesem Trommellärm vertreiben. Manchmal warf
nie schnell einen Blick nach hinten. Dort marschierten all die
Kameraden, eng einer neben dem anderen, ihrem Trommelschlage nach
und nur wenige Schritte von ihr entfernt der Herzallerliebste.
Solange der bei ihr war, so fühlte sie, konnte ihr nichts Schlimmes
geschehen.
Der Kampf war vorüber. Dunkelheit hatte die Verfolgung der
fliehenden Franzosen und der Reichstruppen verhindert. Auf den
Feldern zwischen Tagewerben, Roßbach -und Obschütz hatten die
Preußen ihr Biwak aufgeschlagen. Gewehre, Säbel, Uniformstücke lagen
in Mengen umher. Kanonen hatte man stehengelassen, zerbrochene
Pulverwagen lagen daneben. Überall brannten die Lagerfeuer. Der
Geruch gebratener Hühner lag in der Luft. Bagagewagen wurden
zertrümmert und in die Feuer geworfen. In diesen Wagen hatte man
Weißbrot, Schinken und kaltes Geflügelfleisch, Kuchen und Leckereien
gefunden, dazu feurigen Franzosenwein. Siegesstimmung herrschte im
ganzen Lager; Lachen und Scherzen klangen durch die Nacht. Irgendwo
sangen raune Männerkehlen den alten Choral „Nun danket alle Gott!"
Auch am Lagerfeuer der 2. Kompanie der Finkschen Grenadiere freute
man sich des Sieges. Frohe Soldatenlieder wurden angestimmt Ein
Erzgebirgler sang Volkslieder aus seiner H«mat. „He, Trommelbub'!",
rief der Hauptmann, der heute mitten zwischen den Soldaten saß, „du
hast doch eine helle Stimme, sing' uns auch ein Lied vor!" Der
Trommler zauderte wohl einen Augenblick, dann erklang mit schöner
Stimme durch die kalte Nacht das alte Volkslied:
Kein Feuer, keine Kohle
kann brennen so heiß,
wie heimliche Liebe,
von der niemand nichts weiß.
Keine Rose, keine Nelke
kann blühen so schön,
als wenn zwei verliebte Seelen
beieinander tun steh'n.
Setze du mir einen Spiegel
in's Herze hinein,
damit du kannst sehen
wie so treu ich es mein'.
Als sie das Lied beendet
hatte, war am Feuer lautlose Stille. Ein paar Männer fuhren verlegen
mit der Hand übers Gesicht. Der Hauptmann stand auf, gab dem
Trommler dankbar die Hand und ging still davon Vor ihm aber hatte
sich der Grenadier Kilian Walther schon unbemerkt vom Feuer
entfernt.
In Eilmärschen marschierten die Preußen in den nächsten Wochen durch
Sachsen nach Schlesien. Erster Schnee lag schon auf den Feldern, als
die Grenadiere im Dezember den Kirchhof von Leuten erstürmten und
unser Trommelbub dazu den Siegesmarsch schlug. Dann blieb man in
irgendeinem schlesischen Dorf im Winterquartier und brachte den
Bauern Sorge und Not. Wie oft standen die beiden in diesem Winter
eng umschlungen in der Dunkelheit beieinander. Aber niemand ahnte,
dass der Trommler ein Mädel und der Schatz ihres Kameraden Kilian
war.
Auch der nächste Sommer verging für die Liebenden in heimlicher
Freude und Wonne. Dann kam jener verhängnisvolle Überfall auf die
Kompanie durch die Österreicher. Unter den Toten, die man am Abend
auf dem Kampfgelände zusammen suchte, war auch Kilian. Das Herz
wollte ihr schier vor Kummer und Leid zerspringen. Für manchen
Kameraden war ihr dumpfer Trommelwirbel schon der letzte Gruß
gewesen. Diesmal aber klang immer wieder in den Trommelschlag ihr
lautes Schluchzen.
Sie stand nun allein unter all den Männern. Die Angst, entdeckt zu
werden, half ihr, den großen Schmerz zu überwinden. Sinnlos erschien
ihr jetzt das Leben. Sie fand den Weg zur Heimat vor Scham und Angst
nicht zurück und marschierte weiter als Trommler im Heere des
Preußenkönigs.
„Schubertin", sagte der Hauptmann nach ihrer Entdeckung zu ihr, „du
bist ein mutiges Frauenzimmer, und mancher Mann kann sich an dir ein
Beispiel nehmen. Aber wir können dich nun nicht länger bei uns
behalten. Der König leidet keine Frauenzimmer im Heer. Wir müssen
dich entlassen." Die noch ausstehende Löhnung wunde ihr ausgezahlt.
Außerdem erhielt sie aus der Bataillonskasse zehn Taler, um sich die
nötige Winterkleidung zu kaufen. Der Hauptmann schenkte (ihr noch
einen Taler als Zehrgeld für die Heimreise, und die Kameraden hatten
zusammen gesteuert und ihr im nächsten Stadtchen ein prächtig
gesticktes Häubchen und eine Taftschürze erstanden. Ihre Trommel
durfte sie mitnehmen. Manchem Kameraden standen beim Abschied die
Tränen in den Augen, und der lange Michel gab ihr die Hand und
sagte; „Wenn der Krieg vorüber ist, komme ich und hole dich zur
Frau!"
Verwundert blickten die Bauern dem Mädchen mit der Soldatentrommel
nach, wenn Anna Maria durch die Dörfer wanderte. Viel Not und Elend
sah sie auf diesem Heimweg. Bisher hatte sie die verwüsteten Felder,
die ausgeplünderten Dörfer, die niedergebrannten Scheunen kaum
beachtet. Jetzt erkannte sie das alles mit Grauen und Entsetzen. In
ihrer Heimat an der Saale war es genauso. Arm und verlassen sahen
die Dörfer aus. In Weißenfels lag die von den Franzosen vor der
Schlacht bei Roßbach abgebrannte- hölzerne Brücke über den Saalefluß
immer noch in Schutt und Asche. Eine Fähre hielt mühselig den
Verkehr aufrecht.
Wir wissen nicht viel, wie es der Schubertin dann weiterhin ergangen
ist. Der lange Michel aber scheint nicht gekommen zu sein, um sie
zur Frau zu holen. Sie ist ewig ein lediges Frauenzimmer geblieben.
Als Magd hat sie in verschiedenen Dörfern unserer Heimat gearbeitet.
In Pödelist scheint sie nicht wieder ansässig gewesen zu sein. Was
sollte sie auch dort. Der Bauernhof war in fremden Händen. Die
Eltern hatten zuerst bei Verwandten der Mutter im nahen Dobichau
gewohnt. Dann war die Mutter und kurze Zeit danach auch die
Schwester gestorben. Und der Vater', ein Trunkenbold war er zum
Bettler herabgesunken. Überall blickte man sie höhnisch über die
Schulter an.
Am Morgen des 31. Januar 1766 fand man den früher so wohlhabenden
Bauern Gabriel Schubert in seiner Herberge, dem Gemeindespritzenhaus
in Pödelist, tot auf seiner Strohschütte. Ein Herzschlag hatte
seinem Säuferleben ein Ende gesetzt. Auf Wunsch der noch im Dorfe
lebenden entfernten Anverwandten, die sich seiner schämten, wurde er
am 2. Februar in aller Stille an der Kirchhofsmauer begraben. Nur
der Totengräber, der Leichenträger und ein paar Verwandte und alte
Bauern waren auf den Gottesacker versammelt. Der Pfarrer hatte über
den Toten nicht viel gutes zu sagen: er nannte ihn einen gottlosen,
faulen Menschen, der das schöne Bauerngut der Eltern im Trunk
vertan, der .seine Familie in Not und Elend gebracht und als
miserabler Bettler und Trunkenbold schmachvoll verstorben sei. So
vermerkte er den Todesfall auch im Kirchenbuch.
Als Anna Maria, die jetzt in der Nähe von Merseburg bei einem Bauern
als Dienstmagd arbeitete, einige Wochen später durch den immer noch
lebenden Merseburger Postillion Lemmer den Tod ihres Vaters erfuhr
wanderte sie am nächsten Sonntag, einem herrlichen Vorfrühlingstag
nach Pödelist. Abseits der anderen Toten lag das Grab des Vaters
verlassen in der Friedhofsecke. Ein paar Tannenzweige hatte man auf
den Leichenhügel gelegt und ein armseliger Kranz war der einzige
Schmuck. Der Totengräber, der die Mittagsglocke geläutet, hatte sie
vom Kirchturm aus bemerkt. Nun stand er neben ihr und erzählte von
den letzten Wochen und Tagen des Vaters. Das war kein erfreulicher
Bericht. Als der Totengräber sie zu einem bescheidenen Mittagessen
einlud, schüttelte sie nur den Kopf und ging still davon. Der letzte
Faden, der sie mit ihrem Heimatdorf verband, war gerissen.
Sie muss in den nächsten Jahren oft den Dienst gewechselt haben. Die
Unrast der Soldatenzeit lag ihr noch im Blute. Im Jahre 1789 tauchte
sie in Trebnitz bei Teuchern auf und arbeitete beim Bauern Prötzsch.
Verwundert schaute die Dorfjugend zu, als die nun Dreiundfünfzig
jährige bei ihrem Einzug außer den wenigen Habseligkeiten eine
große, alte Soldatentrommel mitbrachte. Bald wusste das ganze Dorf,
woher diese Trommel stammte, und für die Schulbuben wurde sie
dadurch zur großen Heldin. Einmal im Sommer, die Schubertin kam
gerade mit dem Bauer und der Bäuerin von der Heumahd, rief der alte
Dorfpolizist mit mattem Trommelwirbel die Bauern zur
Gemeindeversammlung. Da nahm sie dem Alten die Schlegel aus der Hand
und ließ einen Trommelwirbel so kraftvoll und anfeuernd erklingen,
dass alle Bewohner erstaunt auf die Straße eilten und meinten,
Soldaten zögen ins Dorf ein. Ja, sie verstand ihr Soldatenhandwerk
noch!
Es war an einem schönen Augustabend. Die Schubertin stand vordem
Bauernhof, und drüben saß die Jugend unter der Dorflinde. Plötzlich
waren die Jungburschen bei ihr, umringten sie und bettelten, mit zur
Linde 2u kommen und ihnen von ihrem Soldatenleben zu erzählen. Nur
selten hatte Anna Maria davon gesprochen. Diesmal aber ließ sie sich
doch überreden. Von den Kämpfen bei Roßbach und Leuten, aber auch
von der Not und dem Elend, von dem Hunger und dem Mangel, der im
ganzen Lande damals herrschte, berichtete sie. Die Sterne standen
schon am Himmel, als man sich endlich trennte.
Am nächsten Morgen fand man sie tot in ihrem Bett. Als man sie zu
Grabe trug, gaben ihr viele Bauern und Bäuerinnen, vor allem aber
die Jugend, trotzdem es mitten in der Erntezeit war und überall die
Arbeit drängte, das letzte Geleit. Dumpf klang ihre Trommel dem
Trauerzug voran, zum letzten Mal tönte das Kalbfell. Man gab die
Trommel der Toten mit ins Grab.
Der Trebnitzer Pfarrer aber vermerkte am Abend ihren Tod im
Kirchenbuch mit folgender Eintragung:
"Jungfrau Anna Maria Schubertin aus Pödelist bei Freyburg gebürtig,
welche einige Monate bei Michael Prötzsch in Diensten gewesen, starb
daselbst am 20. August 1789 und ward den 24. begraben. Diese Person
hat in dem 7jährigen Kriege bei der königlich Preußischen Armee drei
Jahre als Tambour gedient und hat, da sie erkannt wurde, den
Abschied genommen."
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